Wer beobachtet die Literatur? Traditionell ist diese Frage einfach zu beantworten: Literaturwissenschaft und Ãsthetik natÃŧrlich. In einer theoretischen Perspektive, die der soziologischen Einsicht folgt, daà die Gesellschaft aus sozialen Systemen besteht, die sich selbst und einander beobachten, wird die Antwort differenzierter ausfallen. Ist die Literatur ein Sozialsystem unserer Gesellschaft, dann beobachtet die Literatur all jene Systeme, die sich in ihrer Umwelt befinden: etwa die Wirt schaft, die Politik oder das Recht. Was sie dort sieht, kann sie in die literarische Kommunikation integrieren, etwa wenn realistische Literatur Ãļkonomische, politi sche oder juristische Sachverhalte literarisch verarbeitet. Dies geschieht hochselek tiv, denn beobachten impliziert stets, daà etwas beobachtet wird und anderes nicht; das heiÃt, daà eine Unterscheidung involviert ist, die die Beobachtung leitet und zwischen dem unterscheidet, was selektiert wird, und dem, was der Selektion ent geht. Das derart unterscheidende und beobachtende Literatursystem muà dabei permanent entscheiden, was es fÃŧr poesiefähig hält und was nicht. Diese Entschei dung ist historischem Wandel unterworfen. Schildert der Naturalismus eines Ger hard Hauptmann dramatisch die bedrängten Zustände der proletarischen Milieus, so verzichtet der Ãsthetizismus eines Stefan George polemisch auf derart "triviale" Themen, die dann ein halbes Jahrhundert später unter sozialkritischen Vorzeichen als Arbeiterliteratur erneut hoffähig werden. Stabil bleibt bei wechselnden The menvorlieben allerdings die Tatsache, daà bei derartigen Selektionen nicht die Ei gengesetzlichkeiten Ãļkonomischer, politischer oder rechtlicher Verhältnisse im Vordergrund stehen, sondern die Frage, ob die aus derUmwelt ins System der Lite ratur importierten Themen interessante oder langweilige Unterhaltung versprechen.