INoch nie wurde eine "Gehirn&Geist"-Ausgabe derart von der Realität eingeholt, ja überrollt, wie diese. Als wir Redakteure vor Monaten die dreiteilige Serie "Alltagsmoral" konzipierten, deren Abschluss die Titelgeschichte ab S. 12 bildet, hat sich niemand vorstellen können, welchen Raum der Verzicht im Denken und Handeln von uns allen bald einnehmen würde: Verzicht auf soziale Kontakte, auf Frühlingspicknicks und Sportevents, auf Theater, Konzerte sowie auf das Grundrecht der Versammlungs- und Bewegungsfreiheit. Obwohl die coronabedingten Einschränkungen nur temporär sind, stellt die gegenwärtige Pandemie unser Zusammenleben derzeit auf eine harte Probe. Nebenbei lässt sie alte Fragen wieder brisant erscheinen – etwa die nach dem moralischen Wert des Kürzertretens. Natürlich dienen die Maßnahmen in Sachen Covid-19, vom Verzicht auf Omas Geburtstagsparty bis zur abgesagten Urlaubsreise, einem guten Zweck. Allen voran dem, Leben zu retten. Ganz ähnlich, wenn auch weniger offensichtlich gilt dies für den Appell, zum Schutz des Klimas nicht so viel zu fliegen, mehr Gemüse statt Fleisch zu essen und das Auto öfter stehen zu lassen. Unabhängig davon, wie richtig das alles vom Standpunkt der Nachhaltigkeit ist, Verzicht für eine höhere Sache hat immer auch eine psychologische Dimension. So wird die private Abstinenz oft stark moralisiert, also zur Pflicht für jedermann erhoben wird. Sicher gibt es zig Argumente dafür zu verzichten; allerdings verzichten die meisten Menschen eher darauf, diese zur Kenntnis zu nehmen. Sollen doch die anderen anfangen! An mir geht die Welt bestimmt nicht zu Grunde – und überhaupt, so klimaschädlich lebe ich ja gar nicht. Mit solcherlei Gedanken verkriechen sich einige immer tiefer in ein trotziges Weiter-so. Dabei gibt es kaum einen effektiveren Trick, um sich selbst aufzuwerten, als hier und da einmal Selbstkontrolle und Verantwortungsgefühl zu beweisen – und sei es nur sich selbst gegenüber. Genau deshalb ist die Kunst des Verzichtens mit weit weniger Anstrengung und Opfern verbunden, als sich die meisten vorstellen können.